Lebendig begraben
Der Alptraum wird Wirklichkeit
Der Eingang zum Kaninchenbau lief erst geradeaus, wie ein Tunnel und ging dann plötzlich abwärts; ehe Alice noch den Gedanken fassen konnte, sich schnell festzuhalten, fühlte sie schon, dass sie fiel, wie es schien, in einen tiefen, tiefen Brunnen. Hinunter, hinunter, hinunter! Wollte denn der Fall nie endigen? (...)
»Still, was nützt es so zu weinen!«, sagte Alice ganz böse zu sich selbst; »ich rathe dir, den Augenblick aufzuhören!« Sie gab sich ofi sehr guten Rath (obgleich sie ihn selten befolgte), und manchmal schalt sie sich selbst so strenge, daß sie sich zum Weinen brachte; und einmal, erinnerte sie sich, hatte sie versucht, sich eine Ohrfeige zu geben, weil sie im Croquet betrogen hatte, als sie gegen sich selbst spielte; denn dieses eigenthümliche Kind stellte sehr gern zwei Personen vor. »Aber jetzt hilft es zu nichts«, dachte die arme Alice, »zu thun als ob ich zwei verschiedene Personen wäre. Ach! es ist ja kaum genug von mir übrig zu einer anständigen Person!«
EINES DER ERSTEN BÜCHER, die ich im Verlies las, war »Alice im Wunderland« von Lewis Carroll. Das Buch berührte mich auf eine unangenehme, unheimliche Weise. Alice, ein Mädchen wohl in meinem Alter, folgt im Traum einem weißen, sprechenden Kaninchen zu seinem Bau. Als sie hineinschlüpft, stürzt sie in die Tiefe und landet in einem Raum mit unzähligen Türen. Sie ist gefangen in einer Zwischenwelt unter der Erde, der Weg nach oben ist versperrt. Alice findet den Schlüssel zur kleinsten Tür und ein Fläschchen mit Zaubertrank, das sie schrumpfen lässt. Kaum durch den winzigen Durchlass gelangt, fällt die Tür hinter ihr zu. In der unterirdischen Welt, die sie nun betritt, passt nichts zusammen: Die Dimensionen ändern sich ständig, die sprechenden Tiere, denen sie dort begegnet, tun Dinge, die jeder Logik widersprechen. Doch niemand scheint sich daran zu stören. Alles ist verrückt, aus dem Gleichgewicht geraten. Das ganze Buch ist ein einziger greller Alptraum, in dem sämtliche Naturgesetze ausgehebelt sind. Nichts und niemand ist normal, das Mädchen ist allein in einer Welt, die es nicht versteht und in der sie niemanden hat, mit dem sie sich austauschen könnte. Sie muss sich selbst Mut zusprechen, sich das Weinen verbieten und nach den Spielregeln der anderen agieren. Sie besucht die endlosen Teepartys des Hutmachers, auf denen sich allerlei verrückte Gäste tummeln, und nimmt am grausamen Croquetspiel der bösen Herz-Königin teil, an dessen Ende alle anderen Mitspieler zum Tod verurteilt werden. »Kopf ab!«, schreit die Königin und verfällt in irrsinniges Gelächter.
Alice kann diese Welt tief unter der Erde wieder verlassen. Weil sie aus ihrem Traum aufwacht. Wenn ich nach wenigen Stunden Schlaf die Augen öffnete, war der Alptraum immer noch da. Er war meine Realität.
Das ganze Buch, das ursprünglich unter dem Titel »Alice' Abenteuer unter der Erde« erschienen war, wirkte wie eine überdrehte Beschreibung meiner eigenen Lage. Auch ich war unter der Erde gefangen, in einem Raum, den der Täter durch viele Türen von der Außenwelt abgeriegelt hatte. Auch ich war in einer Welt gefangen, in der alle Regeln, die ich kannte, außer Kraft gesetzt waren. Alles, was in meinem Leben bislang gegolten hatte, war hier ohne Bedeutung. Ich war Teil der krankhaften Phantasie eines Psychopathen geworden, die ich nicht verstand. Nicht verstehen konnte. Es gab keinen Bezug mehr zu der anderen Welt, in der ich gerade noch gelebt hatte. Keine vertraute Stimme, kein vertrautes Geräusch, das mir zeigen würde, dass die Welt oben noch war. Wie sollte ich in dieser Situation einen Bezug zur Realität und zu mir selbst aufrechterhalten?
Ich hoffte inständig, ich würde plötzlich, wie Alice, aufwachen. In meinem alten Kinderzimmer, verwundert über einen verrückten Angsttraum, der keinerlei Bezug zu meiner »echten Welt« hatte. Aber es war ja nicht mein Traum, in dem ich gefangen war, es war der des Täters. Und der schlief auch nicht, sondern hatte sein Leben der Verwirklichung einer grausamen Phantasie verschrieben, aus der es auch für ihn kein Entrinnen mehr gab.
Ich habe den Täter von diesem Zeitpunkt an nicht mehr versucht zu überreden, mich freizulassen. Ich wusste, es hatte keinen Sinn.
Die Welt, in der ich nun lebte, war auf fünf Quadratmeter zusammengeschrumpft. Wenn ich in ihr nicht verrückt werden wollte, musste ich versuchen, sie für mich zu erobern. Nicht wie das Volk der Spielkartenmenschen aus »Alice im Wunderland« nur zitternd auf den grausamen Ruf »Kopf ab!« warten; nicht mich wie all die Fabelwesen der verschobenen Wirklichkeit fügen. Sondern versuchen, mir an diesem finsteren Ort einen Rückzugsraum zu schaffen, in den der Täter zwar jederzeit eindringen konnte, aber in dem ich doch so viel wie möglich von mir und meiner alten Welt um mich weben wollte - wie einen schützenden Kokon.
Ich begann, mich im Verlies einzurichten und das Gefängnis des Täters in meinen Raum zu verwandeln, in mein Zimmer. Als Erstes wünschte ich mir einen Kalender und einen Wecker. Ich war in einem Zeitloch gefangen, in dem der Täter allein Herr über die Zeit war. Die Stunden und Minuten verschwammen zu einem zähen Brei, der sich dumpf über alles legte. Priklopil bestimmte wie ein Gott über Licht und Dunkelheit in meiner Welt. »Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht. Und Gott nannte das Licht Tag und die Finsternis nannte er Nacht.« Eine nackte Glühbirne, die mir diktierte, wann ich zu schlafen, wann ich wach zu sein hatte.
Ich hatte den Täter jeden Tag nach dem Wochentag und dem Datum gefragt. Ich wusste nicht, ob er mich anlog, aber das spielte auch keine Rolle. Das Wichtigste war für mich das Gefühl, eine Verbindung zu meinem früheren Leben »oben« zu spüren. Ob es ein Schultag war oder ein freies Wochenende. Ob Feiertage oder Geburtstage nahten, die ich mit meiner Familie verbringen wollte. Zeit zu messen, das habe ich damals gelernt, ist vielleicht der wichtigste Anker überhaupt in einer Welt, in der man sich sonst aufzulösen droht. Der Kalender gab mir ein kleines Stückchen Orientierung zurück - und Bilder, zu denen der Täter keinen Zugang hatte. Ich wusste nun, ob die anderen Kinder früh aufstanden oder ausschlafen durften. In meiner Phantasie ging ich den Tagesablauf meiner Mutter durch. Heute würde sie ins Geschäft gehen. Übermorgen vielleicht eine Freundin besuchen. Und am Wochenende mit ihrem Freund einen Ausflug unternehmen. Die nüchternen Ziffern und Bezeichnungen für die Wochentage entwickelten so ein Eigenleben, das mir Halt gab.
Fast noch wichtiger war der Wecker. Ich wünschte mir einen der altmodischen Sorte, der das Verstreichen der Sekunden mit einem monotonen, lauten Ticken begleitete. Meine geliebte Großmutter hatte einen solchen Wecker. Als ich klein war, hatte ich das laute Ticken, das mich beim Einschlafen störte und sich bis in meine Träume schlich, verabscheut. Nun hielt ich mich an diesem Ticken fest wie jemand, der unter Wasser gefangen ist, an einem letzten Strohhalm, durch den noch etwas Luft von oben in die Lungen kommt. Der Wecker bewies mir mit jedem Ticken, dass die Zeit nicht stehen geblieben war und die Erde sich weiterdrehte. In meinem Schwebezustand ohne ein Gefühl für Zeit und Raum war er meine tickende Verbindung zur realen Welt draußen.
Wenn ich mich anstrengte, konnte ich mich so sehr aufsein Geräusch konzentrieren, dass ich zumindest für ein paar Minuten das nervtötende Surren des Ventilators, das meinen Raum bis zur Schmerzgrenze füllte, ausblenden konnte. Abends, wenn ich auf der Liege lag und nicht einschlafen konnte, war das Ticken des Weckers wie ein langes Rettungsseil, an dem ich mich aus dem Verlies hangeln und in mein Kinderbett in der Wohnung meiner Großmutter schleichen konnte. Dort würde ich beruhigt einschlafen können, in dem Wissen, dass sie im Nebenzimmer über mich wachte. An solchen Abenden rieb ich mir oft etwas Franzbranntwein auf die Hand. Wenn ich mein Gesicht darauf legte und mir der charakteristische Geruch in die Nase stieg, durchströmte mich ein Gefühl der Nähe. So wie früher, wenn ich als Kind mein Gesicht in der Schürze meiner Großmutter vergraben hatte. So konnte ich einschlafen.
Tagsüber war ich damit beschäftigt, den winzigen Raum so wohnlich zu gestalten wie nur möglich. Ich verlangte vom Täter Putzmittel, um den feuchten Geruch nach Keller und Tod zurückzudrängen, der über allem hing. Auf dem Boden des Verlieses hatte sich durch die zusätzliche Feuchtigkeit, die allein meine Anwesenheit verursachte, bereits ein feiner, schwarzer Schimmel gebildet, der die Luft noch muffiger und das Atmen noch schwerer machte. An einer Stelle war das Laminat aufgeweicht, weil Nässe aus dem Erdreich nach oben drang. Der Fleck war eine dauernde, schmerzhafte Erinnerung daran, dass ich mich offenbar weit unter der Erde befand. Der Täter brachte mir ein rotes Kehrset, eine Flasche Pril, ein Raumspray und genau jene Putztücher mit Thymiangeruch, die ich früher immer in der Werbung gesehen hatte.
Ich kehrte nun jeden Tag sorgfältig alle Ecken des Verlieses aus und wischte dann den Boden blank. Ich begann mit dem Schrubben bei der Tür. Die Wand dort war nur wenig breiter als das schmale Türblatt. Von dort führte sie nach links in schrägem Winkel in den Teil des Raumes, in dem die Toilette und die Doppelspüle untergebracht waren. Ich konnte Stunden darauf verwenden, mit Entkalkungsmitteln die kleinen Wassertropfen vom Metall der Spüle zu wischen, bis sie makellos glänzte, und die Toilette so sauber zu wischen, dass sie wie eine kostbare Blume aus Porzellan aus dem Boden wuchs. Dann arbeitete ich mich sorgsam von der Tür weg durch den Rest des Raumes: erst entlang der längeren, dann entlang der kürzeren Wandseite, bis ich an der schmalen Wand gegenüber der Tür angelangt war. Zum Schluss schob ich meine Liege zur Seite und wischte die Mitte des Raumes. Ich achtete peinlich genau darauf, nicht zu viele Putztücher zu verwenden, um die Feuchtigkeit nicht noch zu verstärken.
Wenn ich fertig war, hing eine chemische Version von Frische, Natur und Leben in der Luft, die ich gierig aufsog. Wenn ich dann noch etwas von dem Raumspray versprühte, konnte ich mich für einen Moment fallen lassen. Der Lavendelduft roch nicht sonderlich gut, aber er vermittelte mir eine Illusion von blühenden Wiesen. Und wenn ich die Augen schloss, wurde das Bild, das auf der Spraydose abgedruckt war, zu einer Kulisse, die sich vor die Wände meines Gefängnisses schob: Ich lief in Gedanken die endlosen blauvioletten Reihen von Lavendel entlang, spürte die Erde unter meinen Füßen und roch den herben Duft der Blüten. Die warme Luft war erfüllt vom Brummen der Bienen, die Sonne brannte heiß auf meinen Nacken. Über mir spannte sich der tiefblaue Himmel, unendlich hoch, unendlich weit. Die Felder reichten bis zum Horizont, ohne eine Mauer, ohne eine Beschränkung. Ich rannte, so schnell, dass ich das Gefühl hatte, als könne ich fliegen. Und nichts bremste mich in dieser blauvioletten Unendlichkeit.
Wenn ich die Augen aufschlug, holten mich die kahlen Wände jäh aus meinen Phantasiereisen zurück.
Bilder. Ich brauchte mehr Bilder, Bilder aus meiner Welt, die ich gestalten konnte. Die nicht der kranken Phantasie des Täters entsprachen, die mich aus jedem Winkel des Raumes ansprangen. Ich begann nach und nach, mit den Wachsmalkreiden aus meiner Schultasche die Nut-und-Feder-Bretter, mit denen die Wände verkleidet waren, zu bemalen. Ich wollte etwas von mir hinterlassen, so wie Gefangene die Wände ihrer Zellen bekritzeln. Mit Bildern, Sprüchen, Kerben für jeden einzelnen Tag. Sie tun das nicht aus Langeweile, das verstand ich nun: Das Malen ist eine Methode, mit dem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins umzugehen. Sie tun es, um sich und allen, die die Zelle jemals betreten werden, zu beweisen, dass sie existieren - oder zumindest einmal existiert haben.
Meine Wandmalereien hatten noch einen zweiten Zweck: Ich schuf mir damit eine Kulisse, in der ich mir vorstellen konnte, ich wäre zu Hause. Als Erstes versuchte ich, den Eingangsbereich unserer Wohnung an die Wand zu malen: An die Tür zum Verlies zeichnete ich unsere Türklinke, an die Wand daneben die kleine Kommode, die noch heute bei meiner Mutter im Flur steht. Ich malte akribisch den Umriss und die Griffe der Schubladen auf - zu mehr reichte die Farbe nicht aus, doch für die Illusion genügte es. Wenn ich nun auf der Liege lag und in Richtung Türe blickte, konnte ich mir vorstellen, sie würde gleich aufgehen, meine Mutter würde hereinkommen, mich begrüßen und den Schlüssel auf der Kommode ablegen.
Als Nächstes malte ich einen Stammbaum an die Wand. Mein Name stand ganz unten, dann kamen die Namen von meinen Schwestern, deren Männern und Kindern, von meiner Mutter und ihrem Freund, von meinem Vater und seiner Freundin und schließlich von meinen Großeltern. Ich wendete viel Zeit auf die Gestaltung dieses Stammbaums auf. Er gab mir einen Platz in der Welt und versicherte mir, dass ich Teil einer Familie, Teil eines Ganzen war - und nicht ein versprengtes Atom außerhalb der realen Welt, als das ich mich oft fühlte.
An die Wand gegenüber malte ich ein großes Auto. Es sollte ein Mercedes SL in Silber sein - mein Lieblingsauto, von dem ich ein Modell zu Hause hatte und das ich mir als Erwachsene einmal kaufen wollte. Statt auf Reifen rollte es auf prallen Brüsten. Das hatte ich einmal bei einem Graffiti an einer Betonwand in der Nähe unserer Siedlung gesehen. Ich weiß nicht mehr genau, warum ich gerade dieses Motiv wählte. Ich wollte offenbar etwas Starkes, vermeintlich Erwachsenes. Schon in den letzten Monaten in der Volksschule hatte ich meine Lehrer manchmal mit Provokationen irritiert. Wir durften in der Zeit vor dem Unterricht die Tafel mit Kreide bemalen, wenn wir sie denn rechtzeitig wieder löschten. Während andere Kinder Blumen und Comicfiguren malten, kritzelte ich »Protest!«, »Revolution!« oder »Lehrer raus!«. Es war kein Verhalten, das in dieser kleinen Klasse von zwanzig Kindern, in der wir behütet lernten wie in einem verlängerten Kindergarten, angebracht schien. Ich weiß nicht, ob ich damals einfach schon etwas weiter an die Pubertät herangerückt war als meine Klassenkameraden oder ob ich damit bei all denen punkten wollte, die mich sonst immer nur hänselten. Im Verlies jedenfalls verlieh mir die kleine Rebellion, die in dieser Zeichnung lag, Kraft. Genau wie das Schimpfwort, das ich an einer versteckten Stelle in kleinen Lettern an die Wand kritzelte: »A...«. Ich wollte damit Widerstandskraft zeigen, etwas Verbotenes tun. Den Täter scheine ich damit nicht beeindruckt zu haben, jedenfalls kommentierte er das Bild mit keinem Wort.
Die wichtigste Veränderung aber kam durch einen Fernseher und einen Videorekorder in mein Verlies. Ich hatte Priklopil immer wieder darum gebeten, und eines Tages schleppte er die beiden Geräte tatsächlich nach unten und stellte sie neben den Computer auf die Kommode. Nach Wochen, in denen mir »Leben« ja nur in einer einzigen Form begegnet war, nämlich in Person des Täters, konnte ich mir nun mit Hilfe des Bildschirms einen bunten Abklatsch menschlicher Gesellschaft ins Verlies holen.
Anfangs hatte der Täter einfach wahllos das Fernsehprogramm eines Tages aufgezeichnet. Es war ihm aber wohl bald zu mühsam, die Nachrichten herauszuschneiden, in denen immer noch über mich berichtet wurde. Er hätte niemals zugelassen, dass ich Hinweise darauf bekam, dass man mich in der Welt draußen nicht vergessen hatte. Das Bild, dass mein Leben für niemanden einen Wert hatte, allen voran nicht für meine Eltern, war schließlich eines seiner wichtigsten psychologischen Mittel, mich gefügig und abhängig zu halten.
Deshalb nahm er mir später nur noch einzelne Sendungen auf oder brachte mir alte Videokassetten mit Filmen, die er in den frühen 1990er Jahren aufgezeichnet hatte. Der flauschige Außerirdische Alf, die bezaubernde Jeannie, AI Bundy und seine »schrecklich nette Familie« oder die Taylors aus »Hör mal, wer da hämmert« wurden für mich zum Ersatz fur Familie und Freunde. Ich freute mich jeden Tag darauf, ihnen wiederzubegegnen, und beobachtete sie wohl genauer als jeder andere Fernsehzuschauer. Jede Facette ihres Umgangs miteinander, jeder noch so kleine Dialogfetzen erschien mir spannend und interessant. Ich analysierte jedes Detail der Set-Kulissen, die den Radius absteckten, zu dem ich Zugang hatte. Sie waren mein einziges »Fenster« zu anderen Häusern und doch manchmal so dünn und dürftig zusammengezimmert, dass die Illusion, ich hätte Zugang zum »echten Leben« rasch einstürzte. Vielleicht war das auch ein Grund, warum ich mich später vor allem von Science-Fiction-Serien fesseln ließ: »Star Trek«, »Stargate«, »Zurück in die Vergangenheit«, »Zurück in die Zukunft« ... - alles, was mit Raum- und Zeitreisen zu tun hatte, faszinierte mich. Die Helden dieser Filme bewegten sich auf Neuland, in unbekannten Galaxien. Nur dass sie die technischen Mittel hatten, sich aus misslichen Lagen und lebensbedrohlichen Situationen einfach wegbeamen zu können.
Eines Tages in jenem Frühling, von dem ich nur aus dem Kalender wusste, brachte mir der Täter ein Radio ins Verlies. Ich machte innerlich einen Freudensprung. Ein Radio, das würde wirklich eine Verbindung in die echte Welt bedeuten! Nachrichten, die vertrauten Morgensendungen, die ich in der Küche beim Frühstück immer gehört hatte, Musik - und vielleicht doch ein zufälliger Hinweis darauf, dass meine Eltern mich noch nicht vergessen hatten.
»Du kannst damit natürlich keine österreichischen Sender hören«, zerstörte der Täter mit einer beiläufigen Bemerkung meine Illusionen, als er den Apparat ans Stromnetz anschloss und einschaltete. Immerhin, es war Musik zu hören. Doch als der Sprecher eine Ansage machte, verstand ich kein Wort: Der Täter hatte das Radio so manipuliert, dass ich nur tschechische Sender empfangen konnte.
Ich verbrachte Stunden damit, an dem kleinen Apparat herumzudrehen, der mein Tor zur Welt draußen hätte sein können. Immer in der Hoffnung auf ein deutsches Wort, einen vertrauten Jingle. Nichts. Nur eine Stimme, die ich nicht verstand. Die mir zwar einerseits den Eindruck vermittelte, ich sei nicht allein, in mir aber andererseits das Gefühl der Entfremdung, des Ausgeschlossenseins verstärkte.
Verzweifelt bewegte ich Millimeter für Millimeter den Senderknopf hin und her, richtete immer wieder die Antenne neu aus. Doch außerhalb dieser einen Frequenz war nur lautes Rauschen zu hören.
Später bekam ich vom Täter einen Walkman. Da ich vermutete, dass er eher Musik von älteren Bands zu Hause hatte, wünschte ich mir Kassetten von den Beatles und Abba. Wenn am Abend das Licht ausging, musste ich nun nicht mehr allein mit meiner Angst im Dunkeln liegen, sondern konnte - solange die Batterien reichten - Musik hören. Wieder und wieder die gleichen Stücke.
Mein wichtigstes Hilfsmittel gegen die Langeweile und das Verrücktwerden waren Bücher. Das erste Buch, das der Täter mir brachte, war »Das fliegende Klassenzimmer« von Erich Kästner. Dann folgte eine Reihe von Klassikern - »Onkel Toms Hütte«, »Robinson Crusoe«, »Tom Sawyer«, »Alice im Wunderland«, »Das Dschungelbuch«, »Die Schatzinsel« und »Kon-Tiki«. Ich verschlang die »Lustigen Taschenbücher« rund um die Enten Donald Duck, seine drei Neffen, den geizigen Onkel Dagobert und den erfinderischen Daniel Düsentrieb. Später wünschte ich mir Agatha Christie, deren Bücher ich von meiner Mutter kannte, und las ganze Stapel von Kriminalromanen wie Jerry Cotton und Science-Fiction-Storys. Die Romane katapultierten mich in eine andere Welt und nahmen meine Aufmerksamkeit so gefangen, dass ich über Stunden vergaß, wo ich war. Und genau das war es, was mir das Lesen so überlebenswichtig machte. Während ich mir mit Fernsehen und Radio die Illusion von Gesellschaft ins Verlies holte, konnte ich es beim Lesen gedanklich für Stunden verlassen.
Einen besonderen Stellenwert hatten in dieser ersten Zeit, als ich noch ein zehnjähriges Kind war, die Bücher von Karl May. Ich verschlang die Abenteuer von Winnetou und Old Shatterhand und las die Erzählungen über den »Wilden Westen Nordamerikas«. Ein Lied, das deutsche Siedler für den sterbenden Winnetou singen, hat mich dabei so berührt, dass ich es Wort für Wort abschrieb und den Zettel mit Niveacreme an die Wand klebte. Ich hatte damals weder Tesafilm noch einen anderen Klebstoff im Verlies. Es ist ein Gebet an die Mutter Gottes:
Es will das Licht des Tages scheiden;
nun bricht die stille Nacht herein.
Ach, könnte doch des Herzens Leiden
so wie der Tag vergangen sein!
Ich leg mein Flehen dir zu Füßen;
o, trag's empor zu Gottes Thron,
und lass, Madonna, lass dich grüßen
mit des Gebetes frommem Ton:
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Glaubens scheiden;
nun bricht des Zweifels Nacht herein.
Das Gottvertraun der Jugendzeiten,
es soll uns abgestohlen sein.
Erhalt, Madonna, mir im Alter
des Glaubens frohe Zuversicht;
schütz meine Harfe, meinen Psalter;
du bist mein Heil, du bist mein Licht!
Ave, ave Maria!
Es will das Licht des Lebens scheiden;
nun bricht des Todes Nacht herein.
Die Seele will die Schwingen breiten;
es muss, es muss gestorben sein.
Madonna, ach, in deine Hände
leg ich mein letztes, heißes Flehn:
Erbitte mir ein gläubig Ende
und dann ein selig Auferstehn!Ave, ave Maria!
Ich habe dieses Gedicht damals so oft gelesen, geflüstert und gebetet, dass ich es heute noch auswendig kann. Es schien mir geradezu für mich geschrieben: Mir hatte man auch das »Licht des Lebens« genommen, auch ich sah in dunklen Momenten keinen anderen Ausweg aus meinem Verlies als den Tod.
Der Täter wusste, wie sehr ich vom Nachschub an Filmen, Musik und Lesestoff abhängig war, und hatte damit ein neues Machtinstrument an der Hand. Mit Entzug konnte er mich unter Druck setzen.
Wann immer ich mich in seinen Augen »ungebührlich« verhalten hatte, musste ich damit rechnen, dass er mir die Tür zu jener Welt der Worte und Klänge zuschlug, die wenigstens ein bisschen Ablenkung versprach. Das war besonders schlimm an den Wochenenden. Normalerweise kam der Täter inzwischen jeden Tag in der Früh und meist noch einmal am Nachmittag oder Abend in das Verlies. Doch am Wochenende war ich ganz allein: Von Freitagmittag, manchmal auch schon von Donnerstagabend an, ließ er sich bis Sonntag nicht blicken. Er versorgte mich mit zwei Tagesrationen an Fertiggerichten, einigen frischen Nahrungsmitteln und Mineralwasser, das er aus Wien mitbrachte. Und mit Videos und Büchern. Unter der Woche bekam ich eine Videokassette voll mit Serien - zwei Stunden, wenn ich sehr darum bat, vier. Das scheint mehr, als es ist: Ich musste jeden Tag 24 Stunden allein überstehen, unterbrochen nur durch die Besuche des Täters. Am Wochenende bekam ich vier bis acht Stunden Ablenkung auf Band und das nächste Exemplar der Buchreihe, die ich gerade las. Aber nur wenn ich seine Bedingungen erfüllte. Nur wenn ich »brav« war, gab er mir die lebenswichtige geistige Nahrung. Was er unter »Bravsein« verstand, wusste nur er. Manchmal reichte eine Kleinigkeit, dass er mein Verhalten sanktionierte.
»Du hast zu viel Raumspray verwendet, das nehme ich dir jetzt weg.«
»Du hast gesungen.«
Du hast dies, du hast das.
Mit den Videos und Büchern wusste er genau, welchen Knopf er drücken musste. Es fühlte sich an, als habe er, nachdem er mich meiner echten Familie entrissen hatte, auch meine Ersatzfamilien aus den Romanen und Serien als Geiseln genommen, damit ich seinen Anweisungen folgte.
Der Mann, der sich anfangs bemüht hatte, mir das Leben im Verlies »angenehm« zu gestalten und für ein bestimmtes Hörspiel von Bibi Blocksberg noch ans andere Ende von Wien gefahren war, hatte sich Schritt für Schritt gewandelt, seit er mir verkündet hatte, dass er mich nie mehr freilassen werde.
Zu dieser Zeit begann der Täter, mich immer stärker zu kontrollieren. Er hatte mich zwar von Anfang an komplett unter seiner Kuratel: Eingesperrt in seinem Keller, auf fünf Quadratmetern, hatte ich ihm ohnehin nicht viel entgegenzusetzen. Doch je länger die Gefangenschaft dauerte, desto weniger genügte ihm dieses sichtbare Zeichen seiner Macht. Nun wollte er jede Geste, jedes Wort und jede Funktion meines Körpers unter seine Kontrolle bringen.
Es begann mit der Zeitschaltuhr. Die Macht über Hell und Dunkel hatte.der Täter von Anfang an gehabt. Wenn er morgens in das Verlies hinunterkam, schaltete er den Strom ein, wenn er abends ging, drehte er ihn wieder ab. Nun installierte er eine Zeitschaltuhr, die die Elektrik im Raum steuerte. Während ich anfangs noch ab und zu eine Verlängerung der Lichtzeiten erbetteln konnte, musste ich mich jetzt einem unerbittlichen Rhythmus beugen, den ich nicht beeinflussen konnte: Um sieben Uhr früh schaltete sich der Strom ein. 13 Stunden lang konnte ich in meinem winzigen, muffigen Raum einen Abklatsch von Leben führen: sehen, hören, Wärme spüren, kochen. Alles kam aus der Retorte. Eine Glühbirne kann niemals die Sonne ersetzen, Fertiggerichte erinnern nur entfernt an ein Familienessen um einen gemeinsamen Tisch, und die flachen Personen, die über den Fernsehschirm flimmern, sind nur ein schaler Ersatz für echte Menschen. Aber solange der Strom da war, konnte ich wenigstens die Illusion aufrechterhalten, ich hätte ein Leben außerhalb meiner selbst.
Um acht Uhr abends schaltete sich der Strom ab. Von einer Sekunde auf die andere fand ich mich in totaler Dunkelheit.
Der Fernseher stoppte mitten in einer Serie. Ich musste mitten im Satz das Buch weglegen. Und wenn ich nicht schon im Bett lag, musste ich mich auf allen vieren zu meiner Liege tasten. Glühbirne, Fernseher, Videorekorder, Radio, Computer, Kochplatte, Herd und Heizung - alles, was Leben in mein Verlies brachte, wurde abgeschaltet. Nur der tickende Wecker und das quälende Sirren des Ventilators füllten den Raum. Die nächsten elf Stunden war ich auf meine Phantasie angewiesen, um nicht durchzudrehen und die Angst in Schach zu halten.
Es war ein Rhythmus wie in einer Strafanstalt, streng vorgegeben von außen, ohne eine Sekunde der Abweichung, ohne Rücksicht auf meine Bedürfnisse. Es war eine Machtdemonstration. Der Täter liebte Regelmäßigkeit. Und mit der Zeitschaltuhr zwang er sie auch mir auf.
Anfangs blieb mir noch der Walkman, der mit Batterien betrieben war. Damit konnte ich die bleierne Dunkelheit zumindest ein bisschen auf Abstand halten, auch wenn die Zeitschaltuhr befunden hatte, dass mein Pensum an Licht und Musik erschöpft war. Doch dem Täter missfiel es, dass ich mit dem Walkman sein göttliches Gebot über Hell und Dunkel umgehen konnte. Er begann, den Stand der Batterien zu kontrollieren. Benutzte ich den Walkman seiner Ansicht nach zu lange oder zu häufig, nahm er ihn mir weg, bis ich Besserung gelobte. Einmal hatte er die äußerste Tür zum Verlies offenbar noch nicht ganz geschlossen, als ich schon mit den Kopfhörern des Walkmans auf meiner Liege saß und lautstark einen Beatles-Song mitsang. Er muss meine Stimme gehört haben und kam fuchsteufelswild ins Verlies zurück. Priklopil strafte mich mit Licht- und Essensentzug für das laute Singen. Und ich musste die nächsten Tage ohne Musik einschlafen.
Sein zweites Kontrollinstrument wurde die Gegensprechanlage. Als er damit in das Verlies kam und begann, die Kabei zu montieren, erklärte er mir: »Ab jetzt kannst du oben läuten und mich rufen.« Ich freute mich im ersten Moment darüber und spürte, wie eine große Angst von mir abfiel. Der Gedanke, ich käme plötzlich in eine Notsituation, hatte mich schon seit Beginn meiner Gefangenschaft gequält: Ich war ja zumindest über das Wochenende oft allein und konnte nicht einmal den einzigen Menschen, der wusste, wo ich war - den Täter -, auf mich aufmerksam machen. Ich hatte unzählige Situationen im Kopf durchgespielt: Ein Kabelbrand, ein Wasserrohrbruch, ein plötzlicher allergischer Anfall ... selbst an einer verschluckten Wursthaut hätte ich in diesem Verlies elendig sterben müssen, auch wenn der Täter zu Hause war. Er kam ja nur, wenn er wollte. Die Gegensprechanlage erschien mir deshalb wie ein Rettungsanker. Erst später erkannte ich den eigentlichen Sinn dieser Einrichtung. Eine Gegensprechanlage funktioniert in zwei Richtungen. Der Täter nutzte sie, um mich zu kontrollieren. Um mir seine Allmacht auch dadurch zu demonstrieren, dass er jedes Geräusch, das ich von mir gab, hören, dass er alles kommentieren konnte.
Die erste Version, die der Täter installierte, bestand im Wesentlichen aus einem Knopf, den ich drücken sollte, wenn ich etwas brauchte: Dann leuchtete oben in seiner Wohnung an einer versteckten Stelle ein rotes Licht auf. Doch weder konnte er das Lämpchen immer sehen, noch würde er jederzeit die komplizierte Prozedur auf sich nehmen und das Verlies aufsperren, ohne zu wissen, was ich überhaupt wollte. Und an den Wochenenden konnte er gar nicht erst hinunter. Erst viel später habe ich erfahren, dass das an den Besuchen seiner Mutter lag, die an den Wochenenden im Haus übernachtete: Es wäre viel zu langwierig und auffällig gewesen, die vielen Hürden zwischen der Garage und meinem Verlies wegzuräumen, solange sie anwesend war.
Kurze Zeit später ersetzte er das Provisorium durch eine Anlage, durch die man auch sprechen konnte. Per Knopfdruck schallten nun seine Anweisungen und Fragen in mein Verlies.
»Hast du dein Essen eingeteilt?«
»Hast du Zähne geputzt?«
»Hast du den Fernseher abgestellt?«
»Wie viele Seiten hast du gelesen?«
»Hast du Rechenübungen gemacht?«
Ich schreckte jedes Mal hoch, wenn seine Stimme die Stille durchschnitt. Wenn er mir Konsequenzen androhte, weil ich zu langsam geantwortet hatte. Oder zu viel gegessen hatte.
»Hast du schon wieder alles vorzeitig aufgegessen?«
»Hab ich dir nicht gesagt, dass du am Abend nur ein Stück Brot essen darfst?«
Die Gegensprechanlage war das perfekte Instrument, um mich zu terrorisieren. Bis ich entdeckte, dass es auch mir ein kleines Stück Macht verlieh. Aus heutiger Sicht scheint es mir gerade wegen des ausgeprägten Kontrollwahns des Täters erstaunlich, dass er wohl nicht auf die Idee gekommen war, dass ein zehnjähriges Mädchen dieses Gerät genauer untersuchen würde. Das aber tat ich nach ein paar Tagen.
Die Anlage hatte drei Knöpfe. Wenn man auf »Sprechen« drückte, war die Leitung nach beiden Seiten hin offen. Das war die Einstellung, die er mir gezeigt hatte. War die Anlage auf »Zuhören« gestellt, konnte ich zwar seine Stimme hören, er aber mich nicht. Der dritte Knopf hieß »Dauer«: Wenn man ihn drückte, blieb die Leitung von meiner Seite her offen - doch von oben herrschte Stille.
Ich hatte schon in der direkten Konfrontation mit ihm gelernt, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Nun hatte ich einen Knopf dafür: Wenn mir die Fragen, Kontrollen und Anschuldigungen zu viel wurden, drückte ich auf »Dauer«. Es verschaffte mir eine tiefe Befriedigung, wenn seine Stimme verstummte und nur ich allein den Knopf betätigt hatte, der das geschafft hatte. Ich liebte diesen »Dauer«-Knopf, der den Täter kurz aus meinem Leben sperren konnte. Als Priklopil meine kleine Rebellion mit dem Zeigefinger mitbekam, reagierte er erst fassungslos, dann ungehalten und wütend. Nur selten kam er deswegen ins Verlies hinunter, um mich zu bestrafen. Er brauchte ja jedes Mal fast eine Stunde, um die vielen Türen und Sicherungen zu öffnen. Doch es war klar, dass er sich etwas Neues einfallen lassen würde.
Tatsächlich dauerte es nicht lange, bis er die Gegensprechanlage mit dem segensreichen Knopf abmontierte. Stattdessen kam er mit einem Radio von Siemens ins Verlies. Er nahm das Innenleben aus dem Gehäuse und begann, daran herumzuschrauben. Ich wusste damals noch nichts vom Täter und habe erst viel später erfahren, dass Wolfgang Priklopil früher Nachrichtentechniker bei Siemens gewesen war. Dass er mit Alarmanlagen, Radios und anderen elektrischen Anlagen umgehen konnte, war mir indes nicht verborgen geblieben.
Dieses umgebaute Radio wurde zu einem schrecklichen Folterinstrument für mich. Es hatte ein Mikrofon, das so stark war, dass es jedes Geräusch aus meinem Zimmer nach oben übertrug. Der Täter konnte nun ohne Vorwarnung einfach in mein »Leben« hineinhören und in jeder Sekunde überprüfen, ob ich seinen Anweisungen folgte. Ob ich den Fernseher abgedreht hatte. Ob das Radio lief. Ob ich noch mit dem Löffel über den Teller kratzte. Ob ich atmete.
Seine Fragen verfolgten mich bis unter die Bettdecke:
»Hast du die Banane übriggelassen?«
»Warst du schon wieder so verfressen?«
»Hast du dein Gesicht gewaschen? »
»Hast du den Fernseher nach einer Folge abgedreht?«
Ich konnte ihn nicht einmal anlügen, weil ich nicht wusste, wie lange er schon gelauscht hatte. Wenn ich es doch einmal tat oder nicht sofort antwortete, tobte er aus dem Lautsprecher, bis in meinem Kopf alles hämmerte. Oder er kam unvermittelt ins Verlies und bestrafte mich, indem er mir das Wichtigste nahm: Bücher, Videos, Essen. Es sei denn, ich legte reuig Rechenschaft über meine Verfehlungen, über jeden noch so kleinen Moment meines Lebens im Verlies ab. Als ob es noch etwas gegeben hätte, das ich vor ihm hätte verbergen können.
Eine andere Möglichkeit, mich spüren zu lassen, dass er mich unter totaler Kontrolle hatte, war es, oben den Hörer hängen zu lassen. Dann kam zum Sirren des Ventilators ein verzerrtes, unerträglich lautes Rauschen, das mein Gefängnis restlos ausfüllte und mich bis in den letzten Winkel des winzigen Kellerraums spüren ließ: Er ist da. Immer. Er atmet am anderen Ende der Leitung. Er kann jederzeit losbrüllen, und du wirst zusammenzucken, auch wenn du in jeder Sekunde damit rechnest. Vor seiner Stimme gibt es kein Entrinnen.
Es wundert mich heute nicht, dass ich damals, als Kind, auch glaubte, dass er mich im Verlies sehen konnte. Ich wusste ja nicht, ob er Kameras eingebaut hatte. Ich fühlte mich nun in jeder Sekunde, bis in den Schlaf hinein, beobachtet. Vielleicht hatte er ja sogar eine Wärmebildkamera installiert, damit er mich auch kontrollieren konnte, während ich in völliger Dunkelheit auf meiner Liege lag. Das Gefühl lähmte mich, ich traute mich kaum noch, mich nachts umzudrehen. Tagsüber blickte ich mich zehnmal um, bevor ich auf die Toilette ging: Ich wusste ja nicht, ob er mich gerade beobachtete - und ob vielleicht auch andere dabei waren.
In völliger Panik begann ich, das ganze Verlies nach Gucklöchern oder Kameras abzusuchen. Immer in der Angst, er würde sehen, was ich tat, und gleich nach unten kommen.
Jede kleinste Ritze in den Wandbrettern füllte ich mit Zahnpasta, bis ich sicher war, dass es keine Lücke mehr gab. Doch das Gefühl der dauernden Beobachtung blieb.
»Ich glaube, dass nur wenige Menschen imstande sind, das unglaubliche Ausmaß von Folter und Agonie zu ermessen, die diese grausame Art der Behandlung, über Jahre gezogen, den Leidenden zufügt; und wenn ich selber darüber nur Vermutungen anstellen kann und darüber nachdenke, was ich in ihren Gesichtern gesehen habe, und was sie meines sicheren Wissens nach fühlen, bin ich umso mehr überzeugt, dass es sich um eine Tiefe schrecklichen Leidens handelt, die niemand als die Betroffenen selbst ermessen können, und die kein Mensch das Recht hat, einem Mitwesen anzutun. Ich halte diese langsame und tägliche Beeinflussung des Gehirns für unermesslich schlimmer als jede Folter des Körpers; und weil ihre grässlichen Spuren nicht so sichtbar für das Auge und nicht spürbar bei Berührung sind wie Folterspuren im Fleisch; weil die Wunden nicht auf der Oberfläche liegen und sie wenige Schreie hervorruft, die menschliche Ohren hören können; umso mehr klage ich sie deshalb an.«
Das schrieb der Schriftsteller Charles Dickens 1842 über die Isolationshaft, die damals in den USA Schule machte und bis heute eingesetzt wird. Meine Isolationshaft, die Zeit, die ich ausschließlich im Verlies verbrachte, ohne ein einziges Mal die fünf Quadratmeter Raum verlassen zu können, dauerte über sechs Monate; meine Gefangenschaft 3096 Tage.
Die Gefühle, die diese Zeit in völliger Dunkelheit oder Dauerbestrahlung durch künstliches Licht in mir auslöste, konnte ich damals nicht in Worte fassen. Wenn ich mir heute die vielen Studien ansehe, die die Effekte von Einzelhaft und sensorischer Deprivation - so nennt man den Entzug von Sinneswahrnehmungen - untersuchen, kann ich genau nachvollziehen, was damals mit mir passierte.
Eine der Studien dokumentiert die folgenden Effekte von »solitary confinement«, wie Isolationshaft auf Englisch heißt:
• erhebliche Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit des vegetativen Nervensystems
• erhebliche Störungen im Hormonhaushalt
• Beeinträchtigung von Organfunktionen
• Ausbleiben der Menstruation bei Frauen ohne physiologisch-organische, alters- oder schwangerschaftsbedingte Ursache (sekundäre Amenorrhoe)
• verstärktes Gefühl, essen zu müssen: Zynorexie IHeißhunger, Hyperorexie, Fresssucht
• im Gegensatz dazu Verringerung oder Ausbleiben des Durstgefühls
• starke Hitzewallungen und/oder Kältegefühle, die sich nicht auf eine entsprechende Veränderung der Umgebungstemperatur oder auf eine Erkrankung (Fieber, Schüttelfrost o. Ä.) zurückführen lassen
• erhebliche Beeinträchtigung der Wahrnehmung und der kognitiven Leistungsfähigkeit
• starke Störung der Verarbeitung von Wahrnehmungen
• starke Störungen des Körpergefühls
• starke allgemeine Konzentrationsschwierigkeiten
• starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu lesen bzw. das Gelesene gedanklich zu erfassen, nachzuvollziehen und in einen sinnvollen Zusammenhang zu bringen
• starke Schwierigkeiten bis hin zum Unvermögen, zu schreiben bzw. Gedanken schriftlich zu verarbeiten (Agraphie /Dysgraphie)
• starke Artikulations- / Verbalisierungsschwierigkeiten, die sich besonders in den Bereichen Syntax, Grammatik und Wortwahl zeigen und bis hin zu Aphasie, Aphrasie und Agnosie reichen können
• starke Schwierigkeit oder Unvermögen, Gesprächen zu folgen (nachgewiesenermaßen aufgrund einer Verlangsamung der Funktion des primären akustischen Kortex der Schläfenlappenanteile aufgrund von Reizmangel)
Weitere Beeinträchtigungen
• Führen von Selbstgesprächen zur Kompensation der akustischen und sozialen Reizarmut
• deutlicher Verlust an Gefühlsintensität (z. B. gegenüber Angehörigen und Freunden)
• situativ euphorische Gefühle, die später in eine depressive Stimmungslage umschlagen
Gesundheitliche Langzeitfolgen
• soziale Kontaktstörungen bis hin zur Unfähigkeit, emotional enge und langfristige partnerschaftliche Beziehungen einzugehen
• Depressionen
• Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls
• Wiederkehren der Haßsituation in Träumen
• behandlungsbedürftige Störungen des Blutdrucks
• behandlungsbedürftige Hauterkrankungen
• Nicht-Wiedererlangen von insbesondere kognitiven Fähigkeiten (z. B. im Bereich der Mathematik), die vor der Isolationshaft beherrscht wurden
Als besonders schlimm empfanden die Gefangenen die Auswirkungen des Lebens ohne Sinneseindrücke. Die sensorische Deprivation wirkt auf das Gehirn, stört das vegetative Nervensystem und macht aus selbstbewussten Menschen Abhängige, die weit offen sind für den Einfluss jeder Person, der sie nach einer Phase der Dunkelheit und Isolation begegnen. Das gilt selbst fur Erwachsene, die sich freiwillig in eine solche Situation begeben. Im Januar 2008 strahlte die BBC eine Sendung namens »Total Isolation« aus, die mich sehr berührte:
Sechs Freiwillige ließen sich für 48 Stunden in eine Zelle eines Atombunkers sperren. Allein und ohne Licht begaben sie sich in meine Lage - was die Dunkelheit und die Einsamkeit betrifft, nicht die Angst, nicht die Dauer. Trotz der vergleichsweise kurzen Zeitspanne berichteten alle sechs hinterher, dass sie jegliches Zeitgefühl verloren und starke Halluzinationen und Visionen erlebt hatten. Eine Frau war überzeugt davon, dass ihr Bettzeug nass war. Drei hatten akustische und visuelle Halluzinationen - sie sahen Schlangen, Austern, Autos, Zebras. Alle hatten nach Ablauf der 48 Stunden die Fähigkeit verloren, simpelste Aufgaben zu lösen. Keinem fiel auf Aufforderung ein Wort mit »F« ein. Einer hatte 36 Prozent seines Gedächtnisses verloren. Vier waren sehr viel leichter zu beeinflussen als vor ihrer Isolation. Sie glaubten alles, was ihnen der erste Mensch sagte, der ihnen nach ihrer freiwilligen Gefangenschaft begegnete. Ich begegnete immer nur dem Täter.
Wenn ich mich heute mit solchen Studien und Experimenten beschäftige, bin ich selbst erstaunt darüber, dass ich diese Zeit überstanden habe. Meine Situation war in weiten Strecken mit jener vergleichbar, in die sich die Erwachsenen zu Studienzwecken begeben hatten. Abgesehen davon, dass meine Zeit in der Isolation sehr viel länger andauerte, kam in meinem Fall aber noch ein zusätzlicher, erschwerender Faktor hinzu: Ich hatte keine Ahnung, warum ausgerechnet ich in diese Situation geraten war. Während politische Gefangene sich an ihrer Mission festhalten können und selbst zu Unrecht Verurteilte noch wissen, dass ein Justizsystem mit seinen Paragraphen, Institutionen und Abläufen hinter ihrer Abgeschiedenheit steht, sah ich nicht einmal eine feindliche Logik hinter meiner Gefangenschaft. Es gab keine.
Es mag mir geholfen haben, dass ich noch ein Kind war und mich so leichter an die widrigsten Umstände anpassen konnte, als es Erwachsene jemals vermögen. Aber es verlangte mir eine Selbstdisziplin ab, die mir rückblickend fast unmenschlich erscheint. Ich behalf mir in den Nächten mit Phantasiereisen durch die Dunkelheit. Tagsüber hielt ich verbissen an meinem Plan fest, an meinem 18. Geburtstag mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Ich war fest entschlossen, mir das nötige Wissen dafür anzueignen, und verlangte nach Lesestoff und Schulbüchern. Und ich hielt gegen alle Umstände stur an meiner eigenen Identität und der Existenz meiner Familie fest.
Als der erste Muttertag näher rückte, bastelte ich meiner Mutter ein Geschenk. Ich hatte weder Kleber noch Schere - der Täter gab mir nichts, womit ich mich oder ihn hätte verletzen können. Also malte ich mit den Wachsmalkreiden aus meiner Schultasche einige große rote Herzen auf Papier, riss sie sorgfältig aus und klebte sie mit Nivea-Creme übereinander. Ich stellte mir lebhaft vor, wie ich das Herz meiner Mutter übergeben würde, wenn ich wieder frei war. Sie würde dann wissen, dass ich den Muttertag nicht vergessen hatte, obwohl ich nicht bei ihr sein konnte.
Der Täter ertrug es unterdessen immer schlechter, wenn er sah, dass ich mich mit solchen Dingen beschäftigte. Wenn ich von meinen Eltern, meinem Zuhause, ja selbst meiner Schule sprach. »Deine Eltern wollen dich nicht, die haben dich nicht lieb«, sagte er wieder und wieder. Ich weigerte mich, ihm zu glauben: »Das stimmt nicht, meine Eltern haben mich lieb. Das haben sie mir gesagt.« Ich wusste zwar in meinem tiefsten Inneren, dass ich recht hatte. Aber meine Eltern waren so unerreichbar, dass ich mich fühlte, als wäre ich auf einem anderen Planeten. Dabei lagen nur 18 Kilometer zwischen meinem Verlies und der Wohnung meiner Mutter. 25 Minuten Autofahrt.
Eine Entfernung in der realen Welt, die in meiner verrückten Welt einem Wechsel der Dimension ausgesetzt war. Ich war so viel weiter weg als 18 Kilometer. Und mittendrin in der Welt des despotischen Herzkönigs, in der die Spielkartenleute jedes Mal zusammenzuckten, wenn seine Stimme erschallte.
Wenn er anwesend war, bestimmte er über jede Geste und jeden Gesichtsausdruck: Ich musste so stehen, wie er es mir befahl, und durfte ihm niemals gerade ins Gesicht sehen. In seiner Anwesenheit, so fuhr er mich an, hätte ich den Blick gesenkt zu halten. Ich durfte nicht sprechen, wenn er mich nicht dazu aufgefordert hatte. Er zwang mich dazu, ihm unterwürfig zu begegnen, und wollte Dankbarkeit für jedes bisschen, das er für mich tat: »Ich habe dich gerettet«, sagte er immer wieder, und er schien es ernst zu meinen. Er war meine Nabelschnur nach außen - Licht, Essen, Bücher, all das konnte ich nur von ihm bekommen, all das konnte er mir jederzeit kappen. Und das tat er später auch mit einer Konsequenz, die mich fast an den Rand des Hungertods brachte.
Aber auch wenn mich die dauernde Kontrolle und die Isolation zunehmend zermürbten: Dankbarkeit empfand ich ihm gegenüber nicht. Er hatte mich zwar nicht umgebracht und nicht vergewaltigt, wie ich es am Anfang befürchtet und fast erwartet hatte. Doch ich habe in keinem Augenblick vergessen, dass seine Tat ein Verbrechen war, für das ich ihn verurteilen konnte, wenn ich wollte - für das ich ihm aber niemals dankbar sein musste.
Eines Tages befahl er mir, ihn »Maestro« zu nennen.
Ich nahm ihn zunächst nicht ernst: »Maestro« erschien mir als Wort viel zu lächerlich, als dass sich jemand so bezeichnen lassen würde. Doch er bestand darauf, wieder und wieder: »Du sprichst mich mit Maestro an!« An diesem Punkt wusste ich, dass ich nicht nachgeben durfte. Jemand, der sich wehrt, lebt noch. Wer tot ist, kann sich nicht mehr wehren. Ich wollte nicht tot sein, auch nicht innerlich, ich musste ihm etwas entgegensetzen.
Ich musste an die Passage aus »Alice im Wunderland« denken: »So etwas!«, dachte Alice, »ich habe zwar schon oft eine Katze ohne Grinsen gesehen, aber ein Grinsen ohne Katze! Das ist doch das Allerseltsamste, was ich je erlebt habe.« Vor mir stand ein Mensch, dessen Menschlichkeit weniger wurde; dessen Fassade bröckelte und den Blick freigab auf eine schwache Person. Ein Versager in der wirklichen Welt, der Stärke aus der Unterdrückung eines kleinen Kindes zog. Eine erbärmliche Vorstellung. Eine Fratze, die mich aufforderte, ihn »Maestro« zu nennen.
Wenn ich mich heute an diese Situation erinnere, weiß ich, warum ich ihm diese Anrede damals verweigerte. Kinder sind Meister im Manipulieren. Ich muss instinktiv gespürt haben, wie wichtig ihm das war - und dass ich nun den Schlüssel dafür in der Hand hielt, selbst eine gewisse Macht ausüben zu können. Über die möglichen Folgen, die meine Weigerung nach sich ziehen könnte, habe ich in diesem Moment nicht nachgedacht. Das Einzige, was mir durch den Kopf schoss, war, dass ich mit einem solchen Verhalten schon einmal Erfolg gehabt hatte.
In der Marco-Polo-Siedlung hatte ich manchmal die Kampfhunde der Gäste meiner Eltern ausgeführt. Die Besitzer hatten mir eingeschärft, die Hunde nie an die lange Leine zu nehmen - sie hätten das Zuviel an Bewegungsspielraum ausgenutzt. Ich sollte sie ganz knapp am Halsband nehmen, um ihnen jederzeit zeigen zu können, dass jedes Ausbrechen auf Widerstand stößt. Und ich dürfte ihnen gegenüber nie Angst zeigen. Wenn man das konnte, dann waren die Hunde selbst an der Hand eines Kindes, wie ich es damals war, zahm und gefügig.
Als Priklopil nun vor mir stand, beschloss ich, mich von der furchterregenden Situation nicht einschüchtern zu lassen und ihn ganz knapp am Halsband zu nehmen. »Das mache ich nicht«, sagte ich ihm mit fester Stimme ins Gesicht. Er riss erstaunt die Augen auf, protestierte und verlangte immer wieder von mir, ihn »Maestro« zu nennen. Aber schließlich ließ er das Thema fallen.
Für mich war das ein Schlüsselerlebnis, auch wenn mir das damals vielleicht nicht so klar gewesen ist. Ich hatte Stärke gezeigt, und der Täter hatte sich zurückgezogen. Das überhebliche Grinsen der Katze war zusammengeschnurrt. Übrig geblieben war ein Mensch, der eine böse Tat begangen hatte, von dessen Gemütsverfassungen ich existentiell abhängig war, der aber in gewisser Weise auch von mir abhängig war.
Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. Irgendwo in den vielen Krimis und Fernsehfilmen, die ich früher gesehen hatte, hatte ich aufgeschnappt, dass Menschen böse werden, wenn sie von ihrer Mutter nicht geliebt werden und zu wenig Nestwärme bekommen. Aus heutiger Sicht war es ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus, dass ich versuchte, den Täter als Menschen zu sehen, der nicht von Grund auf böse war, sondern der es erst im Laufe seines Lebens geworden war. Das relativierte keineswegs die Tat an sich, aber es half mir, ihm zu verzeihen. Indem ich mir einerseits vorstellte, dass er vielleicht als Waisenkind im Heim schreckliche Erfahrungen gemacht hatte, unter denen er heute noch litt. Und indem ich mir andererseits immer wieder sagte, dass er sicher auch seine guten Seiten hatte. Dass er mir meine Wünsche erfüllte, mir Süßigkeiten brachte, mich versorgte. Ich denke, dies war in meiner völligen Abhängigkeit die einzige Möglichkeit, die lebenswichtige Beziehung zum Täter aufrechtzuerhalten. Wäre ich ihm ausschließlich mit Hass begegnet, hätte mich dieser Hass so zerfressen, dass ich nicht mehr die Kraft gehabt hätte, zu überleben. Weil ich in jenem Augenblick hinter der Maske des Täters den kleinen, fehlgeleiteten und schwachen Menschen erkennen konnte, war ich in der Lage, auf ihn zuzugehen.
Und es gab auch tatsächlich den Moment, in dem ich ihm das mitteilte. Ich sah ihn an und sagte: »Ich verzeihe dir, weil jeder einmal Fehler macht.« Es war ein Schritt, der manchen seltsam und krank vorkommen mag. Schließlich hatte mich sein »Fehler« die Freiheit gekostet. Aber es war das einzig Richtige. Ich musste mit diesem Menschen auskommen, sonst würde ich nicht überleben.
Ich habe trotzdem nie Vertrauen zu ihm gefasst, das war unmöglich. Aber ich habe mich mit ihm arrangiert. Ich »tröstete« ihn wegen des Verbrechens, das er an mir beging, und appellierte zugleich an sein Gewissen, damit er es bereute und mich zumindest gut behandelte. Er revanchierte sich, indem er mir phasenweise kleine Wünsche erfüllte: eine Pferdezeitschrift, einen Stift, ein neues Buch. Manchmal erklärte er mir gar: »Ich erfülle dir jeden Wunsch!« Dann antwortete ich: »Wenn du mir jeden Wunsch erfüllst, warum lässt du mich dann nicht frei? Ich vermisse meine Eltern so.« Aber seine Antwort war immer die gleiche, und ich wusste sie schon: Meine Eltern liebten mich nicht - und er würde mich niemals freilassen.
Nach ein paar Monaten im Verlies bat ich ihn zum ersten Mal, mich zu umarmen. Ich brauchte den Trost einer Berührung, das Gefühl menschlicher Wärme. Es war schwierig. Er hatte große Probleme mit Nähe, mit Berührungen. Ich selbst wiederum verfiel sofort in blinde Panik und Platzangst, wenn er mich zu sehr festhielt. Aber nach einigen Versuchen schafften wir es, einen Modus zu finden - nicht zu nahe, nicht zu eng, so dass ich die Umarmung aushalten konnte, und eng genug, damit ich mir einbilden konnte, eine liebevolle, umsorgende Berührung zu spüren. Es war der erste Körperkontakt zu einem Menschen seit vielen Monaten. Für ein zehnjähriges Kind eine unendlich lange Zeit.